Planetary Health oder: Wie geht’s uns denn heute?

Warum das Gesundheitskonzept Planetary Health ein Gewinn für Mensch und Planet ist: Interview mit Michael Blasius von der BKK ProVita

Planetary Health ist ein Konzept, das die Zusammenhänge zwischen der menschlichen Gesundheit und den politischen, ökonomischen, sozialen und natürlichen Systemen unseres Planeten beschreibt. Die BKK ProVita handelt als erste gesetzliche Krankenkasse auf der Grundlage von Planetary Health, weil nach ihrer Überzeugung menschliche Gesundheit nur auf einem gesunden Planeten möglich ist. Darüber sprach Michael Blasius, Leiter Gesundheitsmanagement, im Mai 2021 im Interview auf egoFM – anlässlich einer Themenwoche des Senders mit dem Titel „Wie geht’s uns denn heute“.

Wir dokumentieren das Gespräch nachfolgend in einer leicht redigierten Fassung: 

Moderator: Die BKK ProVita gehört nicht nur zu den ältesten Krankenkassen. Es ist auch die nachhaltigste und die erste bilanziell klimaneutrale Krankenkasse Deutschlands. Was macht deiner Meinung nach eine nachhaltige Krankenkasse aus?

Michael Blasius: Die Weltgesundheitsorganisation WHO sagt, dass die Klimakrise der größte medizinische Notfall im 21. Jahrhundert wird. Und wenn der Planet krank ist, kann der Mensch nicht gesund sein. Darum haben wir Klimaneutralität als Baustein unserer Nachhaltigkeitsstrategie.

Welche Philosophie steckt dahinter? Was treibt euch an?

Unser Vorstand Andreas Schöfbeck hat sich 2014 entschlossen, die Kasse neu auszurichten. Seitdem heißen wir „BKK ProVita – Die Kasse fürs Leben.“. In Bezug auf Gesundheit bedeutet Nachhaltigkeit eben auch, ökologisch verantwortlich zu leben. Das bedeutet gesunde Ernährung, gesunde Luft, sauberes Wasser. Der Ursprung von Gesundheit liegt im bewussten Umgang mit sich selbst, mit den Mitmenschen und der Umwelt. Dann kann die Krise, also die Klimakrise, auch zur Chance werden.

Wenn man euch mit anderen Krankenkassen vergleicht: Welche Leistungen unterscheiden euch?

Erstmal sind wir eine ganz normale Kasse. Wir erstatten alles, was im Sozialgesetzbuch steht – genauso wie die anderen Kassen. Aber dann sind wir eben auch eine Kasse „mit Purpose“: Wir wollen Sinn stiften. Deswegen fördern wir über unsere freiwilligen Leistungen, also Satzungsleistungen und Bonusprogramm, genau diesen nachhaltigen, gesunden Lebensstil. Wer sich beispielsweise pflanzenbasiert ernährt, kann die Laborkosten für die Messung seines Vitamin B12-Status über unser Bonusprogramm einreichen, ebenso die Kosten für die Substitution von B12. Das zahlt aktuell keine andere gesetzliche Kasse.


Das Konzept „Planetary Health“

Definition laut Wikipedia (abgerufen am 19. Mai 2021):

„Planetary Health (deutsch etwa „planetare Gesundheit“) beschreibt den Gesundheitszustand der menschlichen Zivilisation und der sie umgebenden Umwelt, von der sie abhängt. Das Konzept wurde von der Rockefeller Foundation und The Lancet als Rockefeller Foundation-Lancet Commission on Planetary Health begründet. (…) Im Gegensatz zu Global Health ist Planetary Health weiter gefasst und schließt auch den Gesundheitszustand des Gesamt-Ökosystems ein. (…)

Das Konzept geht auf den Arzt und Professor für Allgemeinmedizin Per Fugelli zurück, der im Jahr 1993 schrieb: „Der Patient Erde ist krank. Globale Umweltprobleme können ernsthafte Konsequenzen für die Gesundheit des Menschen haben. Für die Ärzte ist es Zeit, der Welt eine Diagnose zu stellen und einen Therapievorschlag auszuarbeiten“. Menschheit kann sich in den kommenden Jahrhunderten nur dann entwickeln und gedeihen, wenn sie bei ihren Aktivitäten die dort angeführten Grenzen nicht überschreitet. Mit Stand 2015 wurden vier dieser Grenzen – Klimawandel, Integrität der Biosphäre, biochemischer Stofffluss und Änderung der Landnutzung – aber bereits überschritten.

Im März 2014 erschien in einem Kommentar des Medizin-Journals The Lancet der Aufruf nach einem Umbau des öffentlichen Gesundheitswesens. Dieser fokussierte sich bislang auf die Gesundheit des Menschen ohne Beachtung des ihn umgebenden Ökosystems. Das Konzept der Rockefeller Foundation-Lancet Commission on Planetary Health wurde im Jahr 2015 auf den Weg gebracht. Planetary Health ist Grundlage der im selben Jahr gegründeten Planetary Health Alliance, einem weltweiten Zusammenschluss von 95 Universitäten, NGOs, Regierungsstellen und Forschungsinstituten. (…)“


Du hast es gerade angesprochen: Nachhaltigkeit und eine nachhaltige Gesellschaft sind euch sehr wichtig. Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit in eurer eigenen Entwicklung?

Eine sehr große Rolle! Wir haben natürlich unsere Hausaufgaben gemacht, sind CO2 neutral, bilanziell klimaneutral, gemeinwohlbilanziert. Vielen würde das reichen, uns nicht: Wir wollen mehr bewegen als uns selbst. Die Gesundheitswirtschaft ist insgesamt einer der größten Wirtschaftszweige mit über einer Milliarde Euro Umsatz am Tag – das muss man sich mal vorstellen! Sie hat mehr als zehn Prozent aller Beschäftigten, also mehr als die Autoindustrie. Da finden wir es total frappierend, dass in diesem Segment das Verständnis für nachhaltiges Wirtschaften kaum da ist. Als gesetzliche Krankenkasse sind wir ja eine Körperschaft öffentlichen Rechts und somit einigen Restriktionen unterworfen. Aber wir haben uns vorgenommen, durch Änderungen in der Gesellschaft und im Gesundheitssystem einen grundlegenden Veränderungsprozess hin zu mehr Nachhaltigkeit anzustoßen.

Apropos Gemeinwohlbilanz: Ist es richtig, dass die BKK ProVita die erste Krankenkasse ist, die GWÖ-bilanziert wurde? Was war der Auslöser dafür?

Tatsächlich, ja! Wir sind Pionier der Gemeinwohl-Ökonomie, als erste und bis jetzt einzige bilanzierte Krankenkasse. Wir finden, die Gemeinwohl-Ökonomie ist ein super Netzwerk – tolle Unternehmen und Organisationen, die sich für Nachhaltigkeit einsetzen, aber eben auch für Verantwortung. Wir haben uns bisher dreimal bilanzieren lassen, mit immer besseren Ergebnissen. Unser letztes war das beste überhaupt in der Gemeinwohlbilanz! Toll, dass egoFM auch ein gemeinwohlzertifizierter Radiosender ist!

„Unsere Essensgewohnheiten sind ein ziemlich großer Hebel für den Klimaschutz“

Warum stellt die BKK ProVita als gesetzliche Krankenkasse die pflanzliche Ernährungsweise – im Gegensatz zu anderen Krankenkassen – so sehr in den Vordergrund? 

Das hat auch etwas mit unserem Vorstand zu tun, der selbst Veganer ist und vor einigen Jahren aus persönlichen, gesundheitlichen Gründen seine Ernährung umgestellt hat. Wir alle können uns ja jeden Tag neu entscheiden, mit unseren Essensgewohnheiten das Klima zu schützen – das ist ein ziemlich großer Hebel. Wir als Kasse wollen in diese Richtung wirken, damit Menschen das annehmen, auch ohne vorher krank zu werden.

Ein weiteres spannendes Thema habe ich vorhin schon angesprochen: „Planetary Health“, euer ganz eigenes Gesundheitskonzept für den Planeten. Erzähl doch mal, wie die Idee dafür geboren wurde und was genau dahinter steckt.

Ich hab’s ja vorhin schon erwähnt, gesund leben klappt nur auf einem gesunden Planeten. Das Konzept haben wir nicht selbst erfunden. Planetary Health wurde von der Lancet Commission und der Rockefeller Foundation entwickelt und beschreibt den Gesundheitszustand der menschlichen Zivilisation und der Umwelt, die sie umgibt und von der sie abhängt.

In eurem Konzept heißt es: „In unserem Handeln müssen wir Grenzen berücksichtigen, um nicht die Gesundheit der Erde und unsere eigene zu gefährden.“ Welche Grenzen, Michael, sind das eurer Meinung nach?

Wir haben auf der Erde natürliche Grenzen. Die hat Professor Johan Rockström vom Potsdamer Klimafolgen-Forschungsinstitut mit seinem Team beschrieben. Es sind insgesamt neun planetare Grenzen, „Planetary Boundaries“, und drei davon sind schon gekippt. Wenn das Klima kippt und die Artenvielfalt kippt und die Ozeane kippen, dann können wir das nicht einfach wieder zurückdrehen – dann haben wir wirklich komplett veränderte Lebensgrundlagen für die Menschheit, für die nächsten Generationen. Deswegen heißen diese Punkte ja auch Kipp-Punkte.

„Die Folgen der Erderwärmung spüren wir auch schon in Deutschland“

Wenn du jetzt mal guckst, wie sich die Krankheitssymptome der Erde auf die Gesundheit von uns Menschen auswirken, was würde da auf jeden Fall mit auf der Liste stehen?

Der Patient Erde leidet an Fieber. Ich finde, Klimaerwärmung klingt zu nett. Es ist wirklich Fieber! Es ist Verschmutzung und Verlust der Artenvielfalt, Schädigung seiner Lunge usw. Und das macht uns Menschen auch krank. Wenn man die planetarische Gesundheit missachtet, also die Schädigung von Luft, von Wasser, von Böden und eben auch den Verlust der Artenvielfalt, dann hat das wirklich einen starken negativen Einfluss auf die Gesundheit:

  • den Verlust der Ernährungssicherung,
  • den Verlust der Verfügbarkeit von Wasser,
  • häufigere, übertragbare und nicht übertragbare Krankheiten,
  • mehr Todesfälle durch Wetterereignisse.

Das spüren wir auch schon in Deutschland:

  • Es gibt eine West-Nil-Mücke in Brandenburg,
  • es gibt mehr Schlaganfälle an Hitzetagen,
  • es gibt viel mehr Allergien,
  • es gibt längere Zeit und mehr Pollen,
  • es gibt psychische Belastungen.

Und das alles zusammen meint diese planetare und persönliche Gesundheit.

„Planetare Gesundheit“, ein ganz wichtiger Begriff. Warum sollte die im Interesse jedes Einzelnen von uns sein?

Es ist eindeutig, dass die menschliche Gesundheit von einem gesunden Planeten abhängt. Und dieses Narrativ ist einfach in den Köpfen der Leute noch nicht so richtig drin. Wir dürfen die Gesundheit der Erde und die eigene Gesundheit nicht gefährden, deswegen sollte es im Interesse jedes Menschen sein, die Erde und damit die Lebensgrundlagen von uns allen zu schützen.

„Planetary Health“ heißt euer Gesundheits-Konzept. Wieso ist dieses Konzept eine Win-Win-Lösung für Mensch und Planet?

Die gute Nachricht ist ja, viele Klimaschutzmaßnahmen – wie: weniger Fleisch und mehr Gemüse essen, Beschleunigung rausnehmen, weniger Konsum, dafür mehr Miteinander – sind ja auch für deine persönliche Gesundheit ein Gewinn. Du kannst also Maßnahmen ergreifen, die dich UND den Planeten fitter machen. Besser geht’s nicht!

Mit welchen Zusammenhängen befasst man sich da genau?

Es geht um die Zusammenhänge von menschlicher Gesundheit und den politischen, ökonomischen und sozialen Systemen und auch den natürlichen Systemen unseres Planeten. Das wurde auch von der Lancet Commission und der Rockefeller Foundation 2015 so beschrieben. Viele Krankheiten entstehen durch Luftverschmutzung, durch zu wenig Bewegung, ungesunde Ernährung und Stress.

Das Stichwort „Beziehung von Mensch und Planet“ fiel in diesem Gespräch schon öfters. Inwieweit müssen wir denn genau diese Beziehung vor allem in Zukunft überdenken?

Der Planet ist ein Super-Organismus, und wir Menschen sind ein Teil davon. Das müssen wir uns einfach immer wieder klarmachen!

„Die Planetary Health Diet ermöglicht es, eines Tages 10 Mrd Menschen gesund sattzumachen“

In eurem Konzept findet sich auch der Begriff „Planetary Health Diet“. Was hat es mit dieser „Diät“ auf sich?

Das ist eine Ernährungsform, die sowohl den Menschen, als auch dem Planeten guttut. Sie wurde von der Eat Lancet Commission erstellt. Das ist ein Speiseplan, nach dem man den Konsum von Obst, Gemüse, Hülsenfrüchten und Nüssen ungefähr verdoppeln und dafür weniger oder gar kein Fleisch und keinen Zucker zu sich nehmen soll. Das würde auch die Lebensmittelproduktion verbessern und Lebensmittel-Abfälle reduzieren. Und es würde uns ermöglichen, im Jahr 2050 die zu erwartenden 10 Milliarden Menschen auf der Erde gesund sattzumachen, ohne den Planeten zu zerstören.

Ich finde, ihr seid eine der spannendsten Krankenkassen und die nachhaltigste Kasse Deutschlands. Ihr wirtschaftet klimaneutral und nach dem Konzept von „Planetary Health“. Welche Erfolge habt ihr bisher verzeichnen können?

Einige – da können wir schon ein bisschen stolz sein! 2018 haben wir von den Vereinten Nationen auf der Klimaschutz-Konferenz in Kattowitz den Klimaschutzpreis zusammen mit ProVeg bekommen, für unsere gemeinsame „Aktion Pflanzen-Power“: Das ist ein Gesundheitsförderungsprojekt zur nachhaltigen pflanzenbasierten Ernährung in Schulen. Wir waren zweimal für den Deutschen Nachhaltigkeitspreis nominiert, einmal im Finale… Also wir haben schon ein paar ganz tolle Erfolge erzielen können!

Was wünscht ihr euch für die Zukunft? 

Wir wünschen uns eigentlich zwei Dinge:

  1. Ich war auf der Auftaktveranstaltung der Deutschen Nachhaltigkeits-Strategie, und da hat man schon gemerkt, dass die Industrie und die Unternehmen bereit sind, Dinge zu verändern. Aber wir brauchen die Rahmenbedingungen, und die muss die Politik schaffen. Unsere Themen sind in so vielen verschiedenen Ministerien angesiedelt. Da muss die Politik tatsächlich den Rahmen schaffen.
  2. Und für den Einzelnen: Wir sind ja auch nicht perfekt. Wir sind selber auch auf dem Weg. Und wir würden uns einfach wünschen, dass die Menschen bewusste Entscheidungen treffen: Also im Kleinen anfangen, sich auf die Nachhaltigkeitsreise begeben. Plastik vermeiden, weniger Fleisch essen, Konsum insgesamt reduzieren, recyceln, upcyceln. Und dann, so nach und nach, kommt man auf den auf den Punkt, dass die Leute sich überlegen, wem sie ihr Geld geben: Ich brauche Strom und ein Konto? Dann 100 Prozent Ökostrom und eine ethische Bank! Und dann vielleicht auch eine nachhaltige Krankenkasse. Das ist unser Ziel: gesunde Menschen auf einem gesunden Planeten. Wir wünschen uns, dass die Menschen sich auf diese Reise machen.

Auf diese Reise gehen wir gerne mit! Michael Blasius, vielen lieben Dank und hoffentlich bis bald.


Mehr Infos zur Themenwoche „Planetary Health – Wie geht’s uns denn heute?“ gibt es auf dieser Themenseite von egoFM. Mehr Infos zum Konzept Planetary Health der BKK ProVita gibt es auf der Website der Krankenkasse. 

BKK ProVita

Hier schreibt die Redaktion der BKK ProVita